Notizbuch 74

Hausen statt Wohnen

Von der Hartnäckigkeit gesellschaftlicher Wertvorstellungen in wechselnden Leitbildern – Vorschlag für einen Blickwechsel
Käthe Protze
A5, 208 Seiten, 13,25 Euro

Neue Leitbilder bedeuten nicht automatisch neue Qualitäten. Diesem Phänomen geht die vorliegende Arbeit anhand städtebaulicher Leitbilder und daraus erfolgten Siedlungsentwürfen seit den 1920er Jahren nach. Die Begriffe „Hausen“ und „Wohnen“ werden genutzt, um unterschiedliche Beurteilungsstränge der Arbeit darzulegen.

„Hausen“ steht für ein Denken, dass an der Gebrauchsökonomie des Alltags orientiert ist. In den Vordergrund gerückt wird häusliches Wirtschaften als ökonomische Grundlage und ein Tätigsein der Menschen. Haus, Hof und Straße erhalten eine wichtige Rolle als Gebrauchsorte für viele verschiedene ökonomische und soziale Situationen.

Im Gegensatz dazu wird „Wohnen“ für die Idee von Freizeit als Gegenpart zur Erwerbsar-beit gesetzt. In diesem Zusammenhang gelten Wohnung und Siedlung als Orte der Erholung. Repräsentatives Grün soll dies unterstützen, zum Schutz werden Verkehr, Arbeit und Fremde fern gehalten.

Die Hartnäckigkeit, mit der „Wohnen“ immer wieder neu in Szene gesetzt wird, wird ersichtlich in der Beschreibung verschiedener städtebaulicher Leitbilder, die seit den 1920er Jahren formuliert und umgesetzt wurden. Egal ob modern, organisch, autogerecht, urban, nachhaltig oder frauengerecht – deutlich wird, dass mit dem „Wohnen“ zugleich monolithische und spezialisierte Siedlungsorganisationen beabsichtigt und gebaut werden. Nicht nur der privat verfügbare Raum ist eingeschränkt- der öffentliche Raum wird auf wenige Orte zentralisiert. Dementsprechend bieten diese Siedlungen bis heute nur wenige Verhaltensangebote und geringe Anpassungsfähigkeit.

Wo das „Hausen“ und damit das Tätigsein der Menschen Platz findet, zeigt der Vergleich mit Stadtteilen (zumeist der Gründerzeit und älter), die nach wie vor als städtisch und lebendig wahrgenommen werden. Anhand wesentlicher Prinzipien wird gezeigt, welche Formen der Erschließung, Parzellierung und Bebauung Voraussetzungen dafür bieten, dass viele verschiedene ökonomische und soziale Lebensweisen sich einrichten können und ein Nebeneinander von häuslichem und gewerblichem Wirtschaften möglich ist. Ihre Prinzipien werden in einen Vorschlag eingearbeitet, wie Gender Mainstreaming im Sinne eines Blickwechsels für die Planung nutzbar gemacht werden kann.

In einem theoretischen Anhang werden einzelne Themenschwerpunkte vertieft. Sowohl Aspekte der Professionsgeschichte als auch der Alltagsökonomie werden aus Geschlechter-Perspektive untersucht. In dem Zusammenhang wird auch die aktuelle Diskussion über Gender und Diversity als sinnvolle Ergänzung zur Freiraumplanung vorgestellt. Anhand einer Einfamilienhaussiedlung wird gezeigt, wie diese Theorien dazu beitragen, strukturelle Benachteiligungen zu erkennen.

Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung: Hausen statt Wohnen – Von der Hartnäckigkeit
gesellschaftlicher Wertvorstellungen in wechselnden Leitbildern – Vorschlag für
einen Blickwechsel 6
Housing instead of residing – about the persistence of social values in changing
guiding principles – a Suggestion for a change of sight 7

l Hausen statt Wohnen.
Von der Hartnäckigkeit gesellschaftlicher Wertvorstellungen in wechselnden

Leitbildern – Vorschlag für einen Blickwechsel 8

1 Anlass und erste Fragen 8
1.1 Inhaltlicher Überblick 9
1.2 Leitbilder und Vorbilder 15
1.3 Zur Methode 17
1.4 Thesen 18

2 Wohnen und Hausen – über die Bedingungen häuslichen Wirtschaftens 24
2.1 Hausen und Wohnen 25
2.2 Innenhaus und Außenhaus an der Straße – Produktionsmittel zum „Hausen“ 26
2.3 Vom „Hausen“ zum „Wohnen“ 28
2.4 Hausen oder Wohnen 30

3 Leitbilder, Stadtmodelle und Siedlungen der modernen Architektur und
Stadtplanung 31
3.1 Wesentliche Qualitäten städtischer Quartiere 31
3.2 Die 20er und 30er Jahre: Funktionstrennung und Stadt-Landschaft 35
3.3 Die 50er Jahre: Die „organische“ und „autogerechte“ Stadt 44
3.4 Die 1960er und 1970er Jahre: Demonstrativbauvorhaben
zu „Urbanität durch Dichte“ 60
3.5 Exkurs: „Verkehr in Städten“ 74
3.6 Die 1980er Jahre: „Neue Urbanität“ und Postmoderne 77
3.7 Die „nachhaltige Stadt“ – Das Modell der Zukunft 85
3.8 Resümee der Leitbilder, Stadtmodelle und Siedlungsbeispiele 93

4 Der Zement der Gleichheit 100
4.1 Zeilenbau?- Hat sie schon! 101
4.2 Die müßige Hausfrau -ein alter Traum 106
4.3 Der Zement der Gleichheit 113

5 Leben und Arbeiten im Quartier – Prinzipien alter nutzungsdurchmischter
Stadtteile 115
5.1 Viele Straßen im Quartier 115
5.2 Parzellierung und Grenzen 117
5.3 Drei Haustypen 118
5.4 Hufe und Block – Varianten der Erweiterungen 120

6 Prinzipien für ein „Hausen“ im Stadtteil 123
6.1 Ein Blickwechsel für „nutzungsgemischte“ Stadtteile 123

7 Hausen statt Wohnen – von der Hartnäckigkeit gesellschaftlicher
Wertvorstellungen bei wechselnden Leitbildern – und ein Vorschlag für eine
Doppelstrategie 127
7.1 Gewohnte Denktraditionen 127
7.2 Gender Mainstreaming in der Planung 129
7.3 Vorschlag für eine Doppelstrategie – Pragmatik und Perspektive 133

II Theoretischer Anhang 135

1 War Walter Gropius ein Feminist? Anmerkungen zu einer verleugneten Tradition
135
1.1 Herr Architekt und Stadtplaner -ein unterschätztes Geschlecht? 135
1.2 Die Folgen der „guten Absichten“ sind Enteignung und Ausbeutung 139

2 „Wer kann das bezahlen – wer hat so viel Geld? Zum Zusammenhang von
Wohnen und Wirtschaften 141
2.1 Die spektakuläre Verheißung 141
2.2 Die Bedeutung von Haus, Hof und Garten für die häuslichen Ökonomien 142
2.3 Vom Garten als Produktionsort zu den Wahlmöglichkeiten – ein Weg professionellen
Nachdenkens 144

3 Häuser für Wien – Über „Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus“
von Heinrich Ferstel und Rudolf von Eitelberger (1860) 146
3.1 Die Wohnungsspekulation als Ursache allen Übels 147
3.2 Ohne Hauswirtschaft klappt die Übertragung des Vorbildes nicht 152

4 Private und öffentliche Freiräume im Alltag von Frauen – Zum Zusammenhang
von Frauen, Wohnen und Freiräumen 153
4.1 „Wohnen“ bedeutet nicht „Nichtstun“ 153
4.2 Anspruch an Arbeitsorte -“ Innenhaus und Außenhaus“ 157
4.3 Vorbilder im Bestand 159
4.4 Der Zeilenbau – „Nichtstun“ wird zum Wohnprogramm 165
4.5 Frauen und Wohnen – Eine Debatte um die Verfügung über private und öffentliche
Freiräume 168

5 Gender und Diversity in der Siedlungsplanung 170
5.1 Einleitung 170
5.2 Gender als Analysekategorie 171
5.3 Das Modell „hegemonialer Männlichkeit“ 173
5.4 Gender und Diversity in der Siedlungsplanung 177
5.5 Einfamilienhaussiedlungen als Ausdruck von Dominanzkultur 179
5.6 Schwerpunktsetzungen gegen die Dominanzkultur 189

III Nachweise 192
1 Literatur 192
2 Abbildungen 205
3 Veröffentlichte Kapitel 206

Notizbuch 77

Altmark-Reise
Romanische Dorf-Kirchen

Redaktion: Hannes Volz und Karl Heinrich Hülbusch
A5, 144 Seiten, 9,25 Euro

Nicht kaputt zu kriegen – zum Prinzip der Persistenz

(Karl Heinrich Hülbusch, Hannes Volz)

Wenn wir mal gucken, wie lange die gelobten Werke der letzten 50 Jahre halten, ist der Ertrag sehr sparsam. Die Kirchen in der Altmark haben ca. 800 Jahre überstanden. Profane Bauten sind bestenfalls 250 bis 300 Jahre alt, also inklusive der Siedlungsgrundrisse so um die 250 Jahre alt. Siedlung und Kirche haben nichts miteinander zu tun. Die Bauerei des Vorklassizismus ist offenbar, wie bei der in Schwaben ‚Vereinödung‘ genannt, ohne Dokument und Indizien aufgebaut worden. Deshalb stehen die Kirchen so ‚beziehungslos‘ und zufällig in den Siedlungen herum. Die Preußen waren ja militante Protestanten. Der Kirche boten sie keinen vorzüglichen Ort, eine Regel der Anordnung in der klassizistischen Neusiedlung an – behandelten sie geradezu lieblos, wie unsere kursorische Prüfung der Kirchenstandorte zur Siedlung ergibt. Das Paradebeispiel dafür ist die Apsidenkirche mit Westturm in Giesenslage, an der Herr Bodenstein uns in die Altmarkkirchen eingeführt hat. Weit und breit keine Siedlung. (…)

Inhalt

Nicht kaputt zu kriegen - zum Prinzip der Persistenz (Karl Heinrich Hülbusch,
Hannes Volz) .................................................... 2

Seminarankündigung und Fahrplan für das Dorf- Kirchen - Planerlnnen-

Seminar in der Altmark (Karl Heinrich Hülbusch)........................................... 4

Besuch in Giesenslage l (Karl Heinrich Hülbusch)........................................... 8

H.-P. Bodenstein
Romanische Kirche Giesenslage. Zahlen, Maße, Proportionen ................................................... 13
Vorbemerkung....................................... 13
Grundriß........................................... 14
Aufriß............................................. 16
Strukturparameter.................................. 17
Kirchenportale..................................... 17
Osterfenster....................................... 20
Backsteinformate................................... 21
Schlußbemerkung.................................... 21

Besuch in Giesenslage II
(Karl Heinrich Hülbusch).......................................... 23

Kirchen im Überblick-synthetische Übersichtstabellen (Hannes Volz)...................................... 33

Aufnahme, Vergleich und systematische Ordnung der Kirchen nach

Ähnlichkeit (Ulrike Braun)......................... 41

Typentabellen (Karl Heinrich Hülbusch)............. 49

Westturm-Apsidenkirchen (Martin Zeihe)............. 50

Westturm-Chorkirchen (Hannes Volz)................. 54

Westturm-Schiffskirchen (Petra Arndt).............. 59

Chorturmkirchen (Helmut Böse-Vetter)............... 63

Die eibständigen Chorturmkirchen in der Altmark (Albert Nitsch)............................................ 67

Schiffsturmkirchen (Lutz Scharla).................. 83

Die Kirche aus dem Dorf gelassen!?
(Helmut Böse-Vetter, Karl Heinrich Hülbusch)....... 89

Reminiszensen - Nach- und Nachtgedanken (Karl Heinrich Hülbusch)......................................... 130

Anhang

Notizbuch 78

Altmark-Reise
Ackerbrachen

Lorberg, F. Hülbusch, K.H., Gehlken, B. Volz, H. (Red.)
A5, 188 Seiten, Beilagen, 11,50 Euro

Ankündigung zum Seminar

Ackerbrachen in der Altmark – bei und um Buch herum, Seminar vom 21.6.08, 14:00 bis 28.6.08, 11:00 in Buch/Kreis Stendal-Altmark zum Zwecke von Vegetationsaufnahmen landespflegerischer Ackerbrachen sowie Armerion-Gesellschaften auf Kirchhöfen. Am Rande des Elbtals zwischen Aue und Niederterrasse sind sandige Flächen, Binnendünen (und evtl. Sander) verbreitet, die in der Regel von Kiefernforsten bestanden werden. Zwischen diesen Forsten und den ackerbaulich intensiv bewirtschafteten Böden mit Ackerzahlen über 60/70 Bodenpunkten liegen heute Ackerbrachen mit niedrigen Ackerzahlen, die dem Augenschein nach – durch Naturschutzförderung subventioniert – jährlich einmal gemäht werden. Im Gegensatz zu einem Seminar mit dem ‚Auftrag‘, vom Quartier aus alle erreichbaren Pflanzengesellschaften zu dokumentieren, geht ein Seminar mit der Aufmerksamkeit auf ein Phänomen selektiv vor und betrachtet weitere Erscheinungen nur nebenher. Wenn man sich ausschließlich einer Erscheinung widmet, müssen diese nicht nur gesucht werden – man muss hinterherfahren -, und nicht nur lokal systematisiert und typisiert, sondern auch mit literarischen Dokumenten verglichen werden. Da bleibt wohl nur Harro Passarge – Norddeutsche Pflanzengesellschaften (1. und 2. Auflage) – so dass diese Suche vereinfacht ist. Die Vegetation der Kirchhöfe stellt ergänzend zu den 3 bis 6 Jahre alten Ackerbrachen eine stabilisierte Vegetation dar, die dem Vergleich brauchbar sein könnte. Bei der Gelegenheit wäre ein Anlass gegeben, die Untersuchungsergebnisse vom Kirchenseminar anzuschauen. Vielleicht sind diese ja bis dahin ausformuliert und dokumentiert. Wie immer nehmen wir alles wahr, was die Brachen begleitet und ergänzt.

Zur vorbereitenden Unterrichtung sende ich eine Tabelle mit Aufnahmen von Ackerbrachen aus der Prignitz mit – zwischen Lenzen und Perleberg (September 2007). Eine Reisekarte vor Ort bringe ich mit oder versende sie mit der Erinnerung ans Seminar.

So ein auf einen ausgesuchten Gegenstand gerichtetes Seminar ist mit einem ,Dreimännerwein‘ zu vergleichen. Es ist bedächtiger und gleichzeitig anstrengender, weil die Systematik mehr und weniger Aufmerksamkeit erfordert. Es hat Ähnlichkeit mit dem Adolphsdorfer Seminar zu den Corydalis-Verlichtungs-fluren (Gehlken et al. 2006). Das allerdings mehr vorbereitete Arbeit enthält, die in der Altmark nicht vorrätig ist. Das müssen wir einfach im Blick auf den Ertrag berücksichtigen. Auch, dass wir mit 7 Leuten keine große Menge an Fällen zusammen tragen können; deshalb sehr sorgfältig immer bedenken müssen, was geht und was nur spannend wäre. Das gehört in Buch zur täglichen Revision und Kritik der Arbeit.

(Karl Heinrich Hülbusch, Ankündigung und Fahrplan zum Seminar)

Notizbuch 79

Strandgut –
Vegetationskundliche Fundstücke

Hülbusch, K.H., Gehlken, B. (Red.)
A5, 278 Seiten, Beilagen, 13,25 Euro

Cover NB 79„Sowohl im heimatlichen als auch im fremden Gelände habe ich nie gelernt, gut „vorbereitet“, d.h. genügend unterrichtet über die bisherigen Auffassungen, Ergebnisse der Wissenschaft ein Objekt oder Phänomen zu betrachten und das Bekannte darin wiederzufinden. Erst nachdem ich eigene Eindrücke gewinnen konnte, habe ich die bisher erreichten Erkenntnisse damit verglichen. (…) Meine meiner Veranlagung entsprechende „Methode“ mag viele Nachteile haben, weil mir vieles entgeht oder erst nachträglich deutlich wird, aber sie hat auch den Vorteil des unbefangenen Beobachtens und Findens“ (R. TÜXEN in: TÜXEN, J. 1982: 12f).

Auf der dritten Altmakt-Reise näherten wir uns ganz im Sinne Tüxens den Teichboden-Gesellschaften (Isoëto-Nanojuncetea) und Zweizahn-Ufersäumen (Bidentetea). Die artenarmen Gesellschaften dieser Klassen sind ein anschauliches Beispiel für Thienemanns biozönologisches Gesetzt: Je extremer ein Standort, desto artenärmer und individuenreicher ist die Biozönose. Die am sandigen Elbstrand verbreiteten Gesellschaften mit oft winzigen Mickerformen der beteiligten Pflanzen sind zugleich ein prima Indiz Wasserführung und Strömung in den Buchen zu erschließen. Letztlich für das unbefangene Beobachten im Vergleich mit den literarisch dokumentieren Erkenntnissen zur syntaxonomischen Neubewertung Corrigiola-reicher Gesellschaften in der Klasse der Isoëto-Nanojuncetea, zur Beschreibung des Corrigiolion litoralis all. nov. Dem Bericht von der Altmarkreise sind weitere Berichte und Reiseberichte zu Vegetation und Klima beigestellt. Eine Übersicht bietet das Inhaltsverzeichnis, das Sie hier einsehen können.

Notizbuch 82

Beschwerliche Reisen zu den Abgründen

des Weinbaus an der Mosel,
des Reichs der ökologischen Spekulation und
der Haldenbegrünung nach der Braunkohle

Hülbusch, K.H., et al. (Red.))

(2012) A5, ca.300 Seiten, Beilagen (15,25 Euro / 12,25 Euro Abo )

Die Metapher von Andrea Appel (1992: 19) „Reisen, ohne daß Weite zu suchen“ ist unübertroffen: „Wir können nicht nur das Fremde erfahren, sondern wir können auch das Bekannte neu erfahren“. Dies setzt freilich voraus, daß nicht nur das bekannte ‚Zuhause‘ vertraut ist, sondern auch, daß wir in der Fremde Vertrautes wiedererkennen. Stoßen wir in der Fremde auf Phänomene, die wir nicht mit dem zuhandenen Wissen verstehen, können wir das Phänomen sofern es ästhetischpropagandistisch überhöht dargeboten wird, touristisch bestaunen oder es einfach ignorieren, wegschauen und übersehen. Diese einfachen, touristischen Fluchten waren uns nicht gegeben bei den Reisen zum Weinbau an die Mosel und zu den Haldenbegrünungen im rheinischen Braunkohlerevier. Die Absicht war ja gerade, die Phänomene nicht nur als alltagspraktisch Reisende anzuschauen sondern als beruflich Reisende zu betrachten. Wir konnten daher nicht wegschauen, obwohl wir nur wenig Vertrautes erblickten. Obwohl wir uns den Gegenständen nur mühsam nähern konnten, ermöglicht unser Blick auf das Fremde in der Fremde vielleicht eine neue Aufmerksamkeit auf das Fremde zu Hause, daß wir auch in Befürchtung der Konsequenzen bisher geflissentlich übersahen. Wir hätten spätestens seit Hans Jürgen Stolzenburgs Analyse (1983) ökologischer Wirkungsanalysten ahnen können, daß die Verstehbarkeit der Landschaft tendenziell aufgehoben wird. Aus diesem Grunde drucken wir die Arbeit Stolzenburgs in diesem Notizbuch noch mal nach.
Weinbau an der Mosel

Was Binding (1932/2009) in der ‚Moselfahrt aus Liebeskummer‘ erzählt, ist wahrscheinlich schon damals von der Vergoldung durch die Erzählung schön gemalt worden. Aber, es hätte auch wahr seien können, weil es so lange her ist. Die Wahrheit entsteht jedoch in der zeitlichen Distanz des Rückblicks. Sie ist aktuell verklärend, im hübschen Bild der Moseltouristen wie der Weinbergsfloristen. Beide übersehen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, das was wir sahen. Eine kruschtige oft von Fazies und Dominanzen geprägte Weinbauunkrautflora, die von der Vegetation junger Weinbergsbrachen kaum zu unterscheiden ist. Die Unkrautvegetation schien ebenso zufällig wie die Bodenbearbeitung. Jedenfalls konnten wir keinen Zusammenhang feststellen. Hingegen war die Vegetationsgenese auf den verbrachten Parzellen hinsichtlich Substrat und Zeit verständlich: Es gab – so zu sagen – eine naturbürtige Zeitreihe. Ein Weinbauer, der mit seiner Maschine an einer Seilwinde hängend einen steilen Weinhang an der Mosel bewirtschaftet, wird von diesem trotz der von außen betrachtet halsbrecherischen Lage kaum von einem Abgrund sprechen. Auch uns kam bei der Moselreise im August 2010 zunächst nicht die Idee, in dieser ‘lieblichen Landschaft’ einen Abgrund zu sehen. Dieser deutete sich erst bei der genaueren Betrachtung der Weinäcker an, blieb während der Tabellenarbeit, die die im Gelände auffälligen Dominanzbestände weder deutlich sichtbar abbildete, noch plausibel erklären konnte, erhalten und konnte auch durch Hinzuziehung der vorgeleisteten Arbeit nicht zerstreut werden – eher im Gegenteil. Was blieb, war der Eindruck, dass in den Weinäckern trotz überall gleicher Kulturart eine bemerkenswerte Fülle von Phänomenen vorkommt. Von Zeile zu Zeile können Unkrautdeckung, Dominanzen einzelner Arten, Bodenbearbeitung, Binde und Schnitttechnik in allen möglichen Kombinationen scheinbar beliebig wechseln. Es gibt offensichtlich keine praktische, bewährte oder tradierte Regel im gegenwärtigen Weinbau. Vielmehr scheint der Anbau diversen Moden zu folgen, die so schnell wechseln, dass in einer Dauerkultur zwangsläufig ‘modernste’, gestern noch propagierte und hoffnungslos ‘veraltete’ Kulturtechniken wild durcheinander vorkommen. Damit wären wir bei der Ursachensuche im Feld der ewigen Modernisiererei angekommen – wenn das kein Abgrund ist!

Wenn! Es ist doch unverständlich, daß die dienende Arbeit, die nur mittelbar die Ernte, d.h. den Ertrag, sichert, erfahrungsgemäß nicht zu einer gleichartig wirk und sparsamen Bearbeitung führt, keine Regel herstellt. Es wäre doch hinsichtlich der Ernte sinniger, wenn die ‚Eigenschaftsstetigkeit des Milieus‘ (Thienemann 1956) durch die Gleichartigkeit der Bearbeitung gefördert statt durch Wahllosigkeit zerrüttet würde. Selbst, wenn es egal ist wie die Unkrautkonkurrenz für den Wein kurz gehalten wird – es müßte doch eine ökonomisch sparsame Regel geben, die für alle gilt. Vielleicht gilt aber eher das Versprechen, die Verheißung, daß man dem Nachbarn ein Schnippchen schlagen kann.
Wirkungsanalysen

Genau diesem Phänomen der ‚wissenschaftlich‘ kaschierten Propaganda widmet Hans Jürgen Stolzenburg seine Untersuchung. Damals (1983) waren die Formulierungen der abstrusen Vorwände noch im Initialstadium. Heute sind sie zu einem veritablen und unumstößlichen administrativen Geld und Geschichte vernichtenden sowie jeden investitiven okkupierenden Zugriff auf Land und Leute legitimierenden Mummenschanz perfektioniert. Auch der alte Erz wird dran seine wahre Freude haben … .

„… und der Beeinflussung der Politik – ist fast ausschließlich dem von einem hohen Grad von Emotion erzeugten Engagement für Natur und Landschaft zu verdanken“ (Erz 1984: 14).

… wenn er sieht, daß aus der Begeisterung und ‚Emotion‘ ein wunderbares Geschäft geworden ist. Hans Jürgen Stolzenburg (1996) nimmt zur Deutung dieses professionsmäßigen Fundamentalismus‘ mit den dem Hang zum engstirnigen Reduktianismus ein Zitat von Sloterdijk (1983: 10):

„Die Berufung auf ‚Natur‘ hat ideologisch immer etwas zu bedeuten, weil sie eine künstliche Naivität erzeugt. Sie deckt den menschlichen Beitrag zu und beteuert, die Dinge seien von Natur aus, vom Ursprung her in der Ordnung vorgegeben, in welcher unsere stets interessierten Darstellungen sie zeichnen. In allen Naturralismen stecken Ansätze zur Ordnungsidelogie.“

Der Naturschutz, die ökologische Planung und alle anderen inhaltsleeren Propagandaartikel haben mit dem Dilemma zu kämpfen, daß sie

„… etwas direkt wollen, was man so direkt nicht wollen kann, weil es wesentlich Nebenprodukt ist“ (Stolzenburg 1996: 298).

Was 1983 der Aufgalopp für einen gewaltigen Mummenschanz, der nur mit disziplinhistorischer Nachlese der beliebten Denkmotive ästhetischer Suggestion einer heilen Welt (Schneider 1989) aufzuspüren war, ist angesichts der rundum mißlungenen Beweise nicht einfacher geworden. Die Propaganda wird manifestiert. Die fehlende Übereinstimmung mit den Verheißungen stört die Propagandisten nicht, weil sie über machtvolle Seilschaften verfügen. Die Aufforderung Dantons:

„Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden. Blickt euch um, das alles habt ihr gesprochen“ (Georg Büchner: Dantons Tod).

… stimmt wohl nicht, denn sie sehen nicht, nicht mal den eklatantesten Widerspruch. Wie Pflugs (1998) Kompendium zur Haldenbepflanzung nach der Braunkohle (s.u.) beweist, bestehen die Teilnehmer dieses Trusts darauf, daß die Verheißung im Gegensatz zur Sichtbarkeit der Dinge eben im Geheimen des Unsichtbaren vorborgen ist und nur den Weisen – den ‚kognitiven Eliten‘ – erleuchtet wird.

Denn die Renaturierung und die ökologischen Rechenschiebereien sind atavistische Modernisierungen, die der technischen Absurdität des fiktiven Fortschrittes einen ebenso fiktiven Naturzauber an die Seite stellen. So ist leicht zu verstehen, daß die politökonomisch begründete Kritik am Mummenschanz des Ökologismus heute an keiner landespflegerischen Lehranstalt verhandelt wird. Dagegen gab’s und gibt’s Forschungsgelder. „Aus dem „ökologischen Wert“ würde [bei dem zugrundeliegenden vulgärökonomischen Modell] ein „ökologischer Preis“ (Stolzenburg 1984: 102). Wer seine Abgaben und Steuern heute anschaut, kann den ‚ökologischen Preis‘ zusammenzählen, ganz praktisch und ohne Gegenwert. Das war 1983 noch nicht konkret möglich, weil Ausgleichsmaßnahmen und das fadenscheinige ‚Ablaßwesen‘ (vgl. AutorInnenkollektiv 1992) noch in den Kinderschuhen steckten. Die Herstellung eines positivistischen Bewußtseins ohne materiellen Gegenwert, ein ökonomistisches Glaubensbekenntnis der Ökologie, war und ist nur aus der Analyse der Verlautbarungen abzulesen. Die AutorInnen ökologischer Heilsversprechen sind, wie Hans Jürgen Stolzenburg herleitet, völlig überfordert, die ideologischen Denkmotive, die der Theorie ökologischer Entwürfe das Wasser reichen und nicht selten aus ähnlich apostolischen Richtungen anderer Disziplinen zugetragen sind, zu durchschauen.
Die Begrünung des Abraumes

Am Rand eines Braunkohlentagebaus, wo gigantische Schaufelbagger im Sekundentakt kubikmeterweise Erde (und ein wenig Kohle) abgraben und am Horizont die dampfenden Silhouetten der Kohlekraftwerke in den Himmel ragen, liegt trotz beeindruckender Weitsicht und (noch) festem Standort die Assoziation mit einem bedrohlichen Abgrund ganz nah. Doch selbst hier, wo wir einen handfesten Abgrund schon im Vorfeld unserer Reise im Sommer 2011 erahnt haben und ihm vor Ort, in dem dem Abriss ‚geweihten‘ Borschemich für einige Tage ins Auge blicken konnten, treffen wir, neben der für uns neuen und nur schwer fassbaren Bedrohung, auch auf einen alten Bekannten von der Mosel. Bei den Streifzügen durch die forstlich rekultivierten Kippflächen im rheinischen Braunkohlerevier ist erneut die Vielfalt der Phänomene das bestimmende Moment. Es sind nicht nur die gepflanzten Baumarten, die mal allein, mal in nahezu allen denkbaren Kombinationen auftauchen und stets wechselnde Bilder herstellen. Es sind zudem wechselnde Pflegezustände, ständig neue Gestaltungsmätzchen, verschiedene Substrate und unterschiedliche Kipptechniken, die eine Übersicht und eine sinnvolle bzw. merkbare Ordnung kaum möglich machen. Wieder sind die Moden und deren geringe Halbwertszeit das bestimmende Phänomen. Begleitet von einem ideologischen Trommelfeuer, dessen Verlautbarungen so kurzlebig wie halbgar sind, ist es ein mühsames, wenig erfreuliches und kaum erfolgversprechendes – eben abgründiges – Unterfangen, der Propaganda halbwegs adäquat auf die Schliche zu kommen.

Im modernistischen Weinbau wie auch bei den Haldenbepflanzungen besteht wenigstens theoretisch noch die Möglichkeit, die Wirkungen in Form der Vegetation abzubilden, um daraus die Ursachen zu folgern. Das funktioniert bei einer am Ertrag orientierten Produktion in der Regel gut, ist vielfach erprobt und bewährt und hält neben der ausreichenden Sicherheit und Routine (der feste Boden!) auch genügend Spielraum für Abwandlungen und Variationen bereit, um die jeweiligen Phänomene adäquat auf die Reihe zu bekommen. Trotz aller Mühen und Umwege bleibt immerhin noch der Gegenstand zur Prüfung der modernistischen Verheißungen, – hier finden wir die ‚wahren‘ Ausgleichs und Ersatzmaßnahmen.

„Der Tendenz nach erstreben sie durchaus den isolierten, reinen und durchschlagenden Effekt, aber sie erreichen ihn nicht mit gut schätzbarer Wahrscheinlichkeit, und darin liegt der innere Grund, warum sie sich zusätzlich, aber notwendig noch mit einer anderen, zuverlässiger wirkenden Erfolgsgarantie versehen müssen: mit unermüdlicher Propaganda“ (Gehlen 1957/66: 37).

Auf den begrünten Halden nach Braunkohletagebau war noch nicht mal die Brache, d.h. die Vegetationsdynamik verstehbar. Die Halden wurden, nachdem die Schüttungen beendet waren, nach der Mode der Zeit modelliert, melioriert und bepflanzt. Keiner der begrünten Haufen wurde nach dem gleichen Schema bepflanzt. Auch der Sinn der Pflanzschemata ist unverständlich. Nur an einem Haufen mit der Pflanzung von Buche ist eine forstwirtschaftliche Absicht erkennbar. Ansonsten Propaganda; d.h. der Sinn der Bepflanzung wie der Haufenmelioration ist nur aus der propagandistischen Literatur zu erschließen: Erholungsforst, potentiell natürliche Vegetation, Natur. Ansonsten sind für Anreisende Parkplätze angelegt und Belehrungsschilder aufgestellt. Für Touristen, damit sie wissen, was sie sehen sollen.
Geschichtslosigkeit Geschichtenlosigkeit

Ohne Erzählung verliert die Geschichte ihren Wert. Die Erzählung der Geschichte kann und ist gerade an fremden Orten von den Dingen geleitet. Wir erkennen beispielsweise an Häusern und Straßen die Geschichte eines Ortes oder an den Mauern die Geschichte eines Weinberges. An der Weinbauunkrautvegetation oder in den Haldenbegrünungen erkennen wir jedoch nix. Wo die Geschichte in den Dingen nicht aufgehoben, da wird sie mit Propaganda aufgehübscht, so daß niemand mehr die Geschichte in den Dingen versteht.

Wieso aber wollen wir überhaupt etwas verstehen? Ist die Verheißung der ’schönen neuen Welt‘ nicht der berühmte ‚Himmel auf Erden‘, oder, wie Giono (1962/89) schreibt: ‚Das Phantom der Helena‘. Es ist ein Phantom, eine Verheißung der Schönheit. Das ‚Neue‘ ist immer eine ‚Helena‘. Der reale Effekt ist mehr Arbeit und weniger Ertrag, wenn die Ausgaben für die Modernisierung abgerechnet werden. Erträglich ist dies nur beim Träumen, d.h. in trügerischer Hoffnung auf das Verhießene. Aus diesem Traum resultiert die Akzeptanz der Mehrarbeit – und der Verlust der Realität. Die Mehrarbeit ist vergleichsweise harmlos gegenüber dem Verlust der Arbeitserfahrung, des Wissens und der Geschichte. Wer konservativ, also erfahrungsgemäß wirtschaftet, gilt sowohl gegenüber den Modernisierern wie den Ökologisten rückständig. Diese Tendenz wird bestärkt, weil mit der Zeit immer weniger Leute die Fähigkeit erlernt haben, erfahrungsgemäß zu arbeiten und dabei auch zu lernen. „Warum sich solche Mühe geben bei der Arbeit und sich um etwas sorgen, über dem das Verhängnis steht? Und darauf antworte ich: Arbeiten ist eine Art, das Wissen zu bewahren, dass meine Söhne jetzt verlieren“ (Berger 1979/84: 105).

Dieses Phänomen der Flucht von der Erfahrung in die Verheißung hat scheinbar verschiedene Erscheinungen, weil es hier und da völlig anders zum Ausdruck kommt. Gehen wir den Beiträgen dieses Notizbuches nach, können wir Hans Jürgen Stolzenburgs Theorie zuerst mal isoliert betrachten und die Albernheit der Rechenverfahren belächeln. Seien wir jedoch ehrlich: wir vertrauen einem Verfahren eher als einem Gedanken, weil das Ergebnis automatisch garantiert ist, wenn wir die Anweisungen befolgen. Das macht die Faszination des Computers (i.w.S.) aus, daß wir nicht mal mehr die Regeln kennen müssen, weil die vorbereiteten Vollzüge der Software harmlos und sanft eine Gehirnwäsche, eine Konditionierung a la Pawlow herstellen, die, wie den Hund, jede AnwenderIn mit Stolz erfüllt. Der Gedanke, die Theorie über die Wirklichkeit sind verpönt. Allenthalben wird eine Technik oder ein Verfahren aufgebauscht eine Methode genannt. Der Sinn des Grabens, also einer Technik, wird erst sinnvoll über den Gedanken, die Begründung, das Prinzip. Üblich ist es, das Graben ohne jeden Gedanken zu ersetzen durch die Technik ohne Umbruch. Schön und gut. Geht wenigstens in Mitteleuropa nicht. Was man, ein Gedanke, genauso hätte verstehen können, wie den Unsinn des Versprechens der ‚Permakultur‘ in einem Klima mit mindestens fünf Monaten Vegetationswinter, also einer Tagesmitteltemperatur unter 5° C. Ohne betrügerische Absicht wäre sowohl für Produzenten wie für Konsumenten der Tausch einträglicher und gleichzeitig preiswerter. Weil die Waren tendenziell nix kosten, also wertlos sind, wird über Transport und Handel der Preis hergestellt. Merkwürdig ist die Analogie über den ‚Transport‘ des OffshoreWindmühlenstromes nach Süddeutschland und die dabei abzuschöpfenden Mehrwerte. Da wir ja weder im Internet, noch in der Stromautobahn noch im Bundestag leben, sondern praktisch mit unserem Alltag beschäftigt sind, ist die Einsicht in den propagandistischen Stuß nötig, damit wir uns nicht verwirren lassen, gibt aber keine Anweisung. Außer, wir formulieren das Prinzip, den Gedanken selbst.

Es kann doch nicht sein, daß eine schlichte aber notwendige Arbeit für die Ernte täglich neu erfunden wird. Beim ‚Moselbogen‘ zur Weinstockerziehung wird ein bewährtes Verfahren benutzt. Ein Verfahren nach dem seit langer Zeit gute und sichere Ernten eingefahren werden. Alle Modernisierungen waren gedanken und erfolglos. Bei der Bodenbearbeitung, einer ausschließlich dienenden Tätigkeit, ist die Prüfung von Neuerungen sehr viel umständlicher, weil trotz des bekannten Gleichnisses aus der Bibel diese Arbeit mit Fron gleichgesetzt wird, einer Fron, der man sich gerne möglichst einfach entziehen möchte: die Arbeit am Weinberg.

„Die Photographen legten es darauf an zu schauen, doch sie wußten nicht, wonach sie Ausschau hielten“ (Berger 1991/93: 190). So geht es allen Modernisierern.
Abgründe

Man steht auf festem Grund und blickt in die Tiefe. Das kommt häufiger vor und muss nicht bedrohlich sein. Vielleicht hat man sogar das Privileg vom Elfenbeinturm, den Panofsky (1957/94) zu Recht gegen die praxologische und vorgeblich ideologiekritische Propaganda verteidigt, die Niederung zu überblicken. Eine komfortable aber durchaus verantwortungsvolle Position. Der relativ gelassenen Weitsicht vom Turm steht der Blick in einen jäh klaffenden Abgrund entgegen. Abgründe können ganz verschiedene Dimensionen und Ursachen haben. Sie können sehr konkret auftreten oder auch eher metaphorischen Charakter haben. Beide Arten der Abgründe begegneten uns auf den beschwerlichen Reisen. In diesem Buch wird davon berichtet.

Gegen ‚beschwerlich‘ wiegen die ‚Abgründe‘ mehr. Vielleicht haben wir uns noch nicht an die ‚Abgründe‘, die wir gerne ‚abstrus‘ nennen gewöhnt, weil wir noch konservativ groß geworden sind, also über eine Moral verfügen, …

„Der Anspruch der Interpretation liegt einfach in folgender Annahme: daß weder Entdeckung noch Erfindung notwendig sind, weil wir bereits über das verfügen, was sie uns zu beschaffen versprechen“ (Walzer 1987/93: 29).

… die vergleicht. Der ‚Elfenbeinturmbewohner‘ ist eine offenbar aussterbende ‚Spezies‘. Was die Reisen damit zu tun haben? Nun, die Propagandisten der Modernisierung und Ökologisierung stoßen ganz praktisch auf materielle Widerstände, die sie nicht zugeben können. Der ‚BolognaProzeß‘, eine Erfindung auf Basis eines schiefen Turmes (s. Titel: Notizbuch der Kasseler Schule 61), wollte die Akademie vordergründig stromlinienförmig verwertungstauglich machen. Jetzt haben die Funktionäre die Universität und die Fachhochschule an die Wand gekarrt – 500 Jahre Wissen und Erfahrung in den Abgrund gekippt, vor dem nicht die Besteller, sondern die StudentInnen stehen. Und da stellt sich der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz schlicht hin und verkündet, daß die Modernisierung, dieses großmäulig verkündete Gedöns mit Bachelor und Master, danebengegangen sei – und kein Geld vorhanden ist, um an Erfahrungen anzuknüpfen. Ohne schlechtes Gewissen, nicht einmal mit Bedauern. Der Hochschullehrer als ‘Apparatschik des Kapitalismus‘ kann seine Ignoranz und Dummheit unbekümmert und unverstanden proklamieren. Da ist für Ökologisten und Landespfleger nix zu befürchten.

Bernd Gehlken, Karl Heinrich Hülbusch & Bernd Sauerwein
Literatur

Appel, Andrea 1992: Reisen ohne das Weite zu suchen. Notizb. der Kasseler Schule 26: 971. Kassel.
AutorInnenkollektiv 1992: Das Ablasswesen. Projektarbeit am Fachbereich Stadt und Landschaftsplanung der Gesamthochschule Kassel. Mskr. 480 S. Kassel.
Berger, John 19(91)93: Wie schnell fährt es? ders.: Begegnungen und Abschiede. 189198. München, Wien.
Berger, John 1979/84: Vom Wert des Geldes. ders. Sauerde: 104141. Frankfurt/M., Berlin, Wien.
Binding, Rudolf G. 2009 (1932): Moselfahrt aus Liebeskummer. 72 S. Husum.
Büchner, Georg 1835: Dantons Tod. zuerst und stark zensiert in Eduard Duller (Hg.): Phönix (Literatur Blatt), ab 1902 unzensierter aufgeführt & sicherlich demnächst auch in Ihrem Theater.
Erz, Wolfgang 1984: Grundsätze und Forderungen zur Verbesserung der beruflichen Situation. Jahrb. f. Natursch. und Landschaftspflege 35: 814. Bonn, Bad Godesberg,
Gehlen, Arnold 19(57)66: Die Seele im technischen Zeitalter. 131 S. Hamburg.
Giono, Jean 1962/89: Die Terrassen der Insel Elba. 190 S. Frankfurt/M.
Panofsky, Erwin 1957/94: In defence of the ivory tower. The Centennial Review 1(2): 111122. Michigan; deutsch 1994: Zur Verteidigung des Elfenbeinturms. Der Rabe 41: 147155. Zürich.
Pflug, Wolfram (Hg.) 1998: Braunkohletagebau und Rekultivierung. Landschaftsökologie, Folgenutzung, Naturschutz. 1068 S. Berlin, Heidelberg, New York, Barcelona, Budapest, Hong Kong, London, Mailand, Paris, Santa Clara, Singapur, Tokyo.
Schneider, Gerda 1989: Die Liebe zur Macht. Über die Reproduktion der Enteignung in der Landespflege. Notizbuch der Kasseler Schule 15. 164 S. Kassel.
Sloterdijk, Peter 1983: Kritik der zynischen Vernunft. 959 S. 2 Bände. Frankfurt am Main.
Stolzenburg, Hans Jürgen 1996: Zur Apostolik des Grünspans. Notizb. der Kasseler Schule 40: 297309. Kassel.
Thienemann, August 1956: Leben und Umwelt. 153 S. Hamburg.
Walzer, Michael 19(97)93: Kritik und Gemeinsinn. 144 S. Frankfurt/M.